(UN)PLANBAR
"Abstimmung Verkaufsplanung" /
"S&OP Demand Review"

Leseprobe Kapitel 16

Drei Wochen später stehe ich am Hamburger Flughafen und warte auf ein Taxi. Mike konnte doch nicht mitkommen, da er bereits eine andere Dienstreise geplant hatte. Daher werde ich allein in die Höhle der Löwen gehen, um Pieter nächste Woche eine hoffentlich zufriedenstellende Rückmeldung über die hiesige Verkaufsplanung geben zu können. Während der Fahrt durch die Stadt schaue ich aus dem Fenster und freue mich, dass ich über Nacht bleibe. Hoffentlich hält das Wetter, was es verspricht, sodass ich am Abend durch die Stadt bummeln kann. Vor allem die historische Speicherstadt soll einen Abstecher wert sein. Das Taxi hält vor dem vielstöckigen und modernen Verwaltungsgebäude. Es ist schon ein himmelweiter Unterschied, ob man eine Fabrik besucht oder eine Zentrale mit Vertrieb und Marketing. Letztere bietet moderne Büros, bodentiefe Fenster mit einer Flut an Tageslicht – allein der Empfang ist einladend herausgeputzt und macht Neugier auf mehr. Natürlich werden in einer Produktionsstätte weniger Kunden oder andere Geschäftspartner empfangen. Aber ein bisschen neidisch bin ich dennoch, wenn ich daran denke, welches Angebot, von einer top Kantinen-Verpflegung oder einem Fitnessstudio, diese fortschrittlichen Dienststellen anbieten. Wenn ich mich so umschaue, dann regt sich der leise Verdacht, dass jeder Euro, den wir im Werk einsparen, hier für die Außenwirkung des Unternehmens ausgegeben wird. Aber lassen wir diese negativen Gedanken beiseite. Immerhin möchte ich der kommenden Sitzung nicht voreingenommen entgegentreten. Auch die vielen Mitarbeiter sind komplett anders gekleidet – Kostüme oder Anzüge, wo man hinschaut. Bei uns im Werk sucht man danach vergebens. Nur wenn ein wichtiger Lieferant oder eine Delegation einer Landesgesellschaft zu Besuch kommt, werfen wir uns dafür in Schale. Mir gefällt der lockere, dennoch ordentliche Kleidungsstil deutlich besser – mehr Individualität und weniger Schein als Sein. Mir klopft jemand auf die Schulter. Ich drehe mich um. Es ist Marcel, der Leiter der Absatzplanung für den deutschsprachigen Raum. Er begrüßt mich freundlich und lädt mich auf einen Kaffee in die Kantine ein. Immerhin haben wir noch eine dreiviertel Stunde Zeit, bis die monatliche, in die Geschäftsleitungssitzung integrierte Abstimmung der Verkaufsprognosen beginnt. Wir nutzen den Moment für eine Vorabsprache. Marcel weiht mich in einige Details und Besonderheiten ein, vor allem beschreibt er die Charaktereigenschaften des Leiters Vertrieb und der Marketingleiterin. Beide spielen eine wesentliche Rolle im kommenden Meeting. Den deutschen Geschäftsführer namens Henning hatte ich bereits bei einem Workshop in der Schweiz vor einiger Zeit kennengelernt. Er verkörpert die typische Führungskraft auf dem Cover eines Business Magazins – großgewachsen, gut gestylt und in der Ansprache eine eloquente Wortwahl. Von solchen Personen kann man sich einiges abschauen, doch in der Realität bevorzuge ich die Charaktermenschen wie Pieter um Weiten.

Es wird Zeit und wir fahren mit dem Fahrstuhl ins Obergeschoss des Gebäudes. Vor uns liegt ein großer gläserner Besprechungsraum. Als man uns erkennt, werden wir herein gewunken. Ich nehme Platz und packe meine Unterlagen aus. Nachdem der aktuelle Agenda-Punkt abgehandelt ist, blicken alle Augen zu mir, denn Henning bittet mich um eine kurze Vorstellung meiner Person und den Grund des Besuchs. Das deutsche Management-Team schaut erst etwas ungläubig, da ich mit Mitte Zwanzig schon so viele Möglichkeiten im Konzern wahrnehmen konnte und einige können das nicht so recht glauben. Ein gewöhnlicher Management-Trainee, der irgendwann einmal in einer Geschäftsleitung sitzt, hat normalerweise in diesem Alter gerade einmal sein Studium abgeschlossen und erste Gehversuche im Unternehmen hinter sich. Manchmal wünschte ich mir, bereits ein paar Jahre älter zu sein, da mir so eventuell mehr Seniorität zugesprochen würde, ohne jedes Mal einen Nachweis über mein Wissen oder meine Kompetenzen erbringen zu müssen. Nachdem ich meine Vita und die Motivation für eine Verbesserung unseres Planungsprozesses dargestellt habe, werde ich gebeten, noch kurz ein paar Worte zu unserem Werk und den aktuellen Herausforderungen loszuwerden. Hier nutze ich direkt die Gelegenheit, mit kurzen und knackigen Beispielen die Hintergründe und Wichtigkeit des Planungsprozesses aufzuzeigen. Ich gehe auf unsere bereits umgesetzten Maßnahmen ein und zeige auf, warum wir mit der Absatzplanung aus den Ländern unzufrieden sind. Hierzu verwende ich nochmals den Service-Verlustbaum und das Pareto-Diagramm aus dem hervorgeht, dass wir vor allem aus Deutschland eine Korrektur der aktuellen Planungsvolatilität erwarten. Einige Minuten später ist Marcel bereits bei der Vorstellung der aktuellen Absatzplanung. Er präsentiert hierzu eine Zusammenfassung der vorwärts gerichteten Verkaufsplanung seines Teams. Um die Daten auf Managementniveau zu heben, wurden die Artikeldaten auf Marken und Sortimente gruppiert. Wir sind gerade bei den Produkten, die größtenteils in unserem Werk produziert werden. Die geplanten Verkäufe dieser Artikel werden in Tonnen dargestellt. Marcel zeigt die kommenden zwölf Monate auf und vergleicht diese jeweils in Summe als auch pro Monat im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Somit lassen sich die Abweichungen zwischen den Monaten in der Saisonalität oder auch bei den Promotionsvolumen gut erkennen. Da die Daten aber über das Geschäftsjahr hinausgehen, werden die Summen ebenfalls für das laufende Geschäftsjahr aufgezeigt. Diese sind dann eine Mischung aus bereits realisierten Verkäufen und des Forecasts, quasi den erhofften Verkäufen. Marcel versucht immer wieder, die kommerziellen Kollegen ins Spiel zu bringen und fordert zu einer Kommentierung der Daten auf. Immerhin lautet die Zielsetzung, die Chancen und Risiken des von ihm präsentierten Plans zu verstehen sowie gezielte Anpassungen in den an die Werke und Lieferanten zu übermittelnden Absatzplänen abzustimmen. Während seiner Diskussionsversuche muss ich innerlich schmunzeln. Er hatte die Rollenverteilung und Eigenschaften der Personen treffend beschrieben. Die Marketingleiterin ist eher kühl und taktisch. Sie kennt sich gut mit den Portfolioänderungen und Kampagnen aus. Sie kann somit gut, aber nur oberflächlich kommentieren und zur Diskussion beitragen. Wichtig ist vor allem das Wort des Vertriebsleiters. Er scheint sich gerne Reden zu hören und es fällt mir schwer zu verstehen, was genau der Punkt seiner langen Ausführungen ist. Eigentlich würde ich jetzt erwarten, dass Henning in seiner Rolle als Geschäftsführer einschreitet und klare Ansagen einfordert. Dies geschieht aber nicht. Ich bleibe ruhig, denn ich bin stiller Zuhörer und gebe erst am Ende der Sitzung mein Feedback und Fazit ab. Der Vertriebsleiter lässt sich nicht in die Karten schauen und hat auf alle Fragen eine Antwort oder besser gesagt Ausrede. Denn Marcel versucht den Finger in die Wunden zu legen, vor allem dort, wo die Verkäufe unter den Erwartungen des Marketings liegen oder der Trend negativ ist. Auch bei positiven Abweichungen frägt Marcel nach, denn er möchte verstehen, ob sich ein Trend bestätigt oder was der Grund für die Mehrverkäufe war. Letztendlich kommt wenig Licht ins Dunkel und der Vertriebsleiter reagiert irgendwann genervt: »Woher soll ich denn wissen, was wir in einem halben Jahr verkaufen? Ich besitze keine hellseherischen Fähigkeiten!« Ich finde diese Aussage interessant, denn sobald Marcel Zahlen darstellt, die tiefer als die Zielvorgaben von Marketing oder der Finanzabteilung sind, wird gleich dagegen argumentiert, wie unrealistisch diese Zahlen doch seien und dass seine Mannschaft hier schon noch für den Rest des Geschäftsjahres die Verluste wettmachen werde. Klare Maßnahmen sind Fehlanzeige – und wieder wünschte ich, dass der Geschäftsführer eingreift und diese einfordert. Im Englischen würde man dieses Verhalten wohl als »sand backing« bezeichnen.

Nach einer Stunde hat es Marcel geschafft. Er ist mit seiner Präsentation fertig. Auf dem Flipchart sehe ich keine wirklichen Aktionspunkte. Ich frage mich, was er nun mit den gewonnenen Informationen aus dem Meeting anstellt. Jetzt bin ich an der Reihe und trete mit meinem Notizzettel in der Hand nach vorne. Ich bewaffne mich mit einem Stift und fange an, unter Kommentierung das leere Flipchart zu füllen. Punkt für Punkt erkläre ich dabei, was ich beobachtet habe und wie ab dem nächsten monatlichen Planungsmeeting ein Fortschritt zustandekommen könnte. Mir ist aufgefallen, dass die kommerziellen Funktionen mit der Planungseinheit wie Tonnen, Stück oder Liter wenig anfangen können. Lediglich der Finanzchef konnte hier gut folgen. Daher schlage ich vor, dass man sich eine Übersetzung überlegt, um von den operativen Mengendaten auf managementtaugliche Finanzdaten wie beispielsweise Umsatz umzurechnen. In diesem Zusammenhang schlage ich vor, dass die Zahlen für das aktuelle Geschäftsjahr in »year to date« (bisheriger Verkaufserlös der vorgegangenen Monate) und »year to go« (noch zu erzielender Verkaufserlös bis Ende Geschäftsjahr) aufgeteilt werden. Diese beiden Kennzahlen werden dann mit dem Vorjahr und vor allem mit dem Jahresplan, dem Budget, vergleichen. Somit wird ersichtlich, ob die Zielerreichung überhaupt noch realistisch ist. Hier kommt nun die Rolle von Henning ins Spiel. Er solle die Zahlen, Daten und Fakten im Meeting kritisch hinterfragen und sicherstellen, dass eine realistische Planung zustande kommt. Chancen und Risiken müssen nicht immer unverzüglich im Plan abgebildet werden, aber in Richtung der Zentrale oder der Werke kommuniziert sein. Henning kann so ebenfalls erkennen, ob die Zielerreichung seiner Landesgesellschaft überhaupt erreichbar ist und frühzeitig mit Korrekturmaßnahmen eingreifen sowie diese über den monatlichen Planungsprozess evaluieren lassen. Nach einer kurzen Diskussion gehe ich darauf ein, dass überhaupt keine Kennzahlen wie Lieferperformance gegenüber den Kunden oder vor allem die Planungsgüte der Verkaufsprognosen besprochen wurden. Wir vereinbaren, dass hierzu ein Standard mit Mike in der Zentrale ausarbeitet werden soll. Zuletzt erkläre ich nochmals die Notwendigkeit für einen längerfristigen Ausblick. Ich gebe Beispiele, auf welche Veränderungen wir in den Werken oder mit unseren Vorlieferanten reagieren können und welche Planabweichungen eher zu Schwierigkeiten und am Ende das Tages verärgerten Kunden führen. Marcel und ich erklären Ansätze von Modellierungsmöglichkeiten und sprechen über Themen wie »Demand Sensing« oder »Statistical Forecasting«. Wir vereinbaren auch hier eine Zusammenarbeit mit der Zentrale, um zu schauen, was innerhalb unseres Netzwerks für Vorbilder zurate gezogen werden können, um die Absatzplanung zu automatisieren und zudem die Planungsgenauigkeit vor allem im mittel- bis langfristigen Horizont zu erhöhen. Notfalls werden wir uns hier nochmals einen Berater ins Haus holen, da die Absatzplanung ein wesentlicher und wichtiger Input in die Supply Chain des Unternehmens ist. Ich belasse es bei diesen Punkten. Auf Verhalten der Teilnehmer gehe ich nicht weiter ein, da mir hierzu der Mut fehlt. Was habe ich Jungspund schon diesem erfahrenen Management-Team mitzugeben? Am Ende meiner Zusammenfassung erhalte ich anerkennendes Nicken und Hennings Zustimmung, dass er die Maßnahmen weiterverfolgen wird. Nachdem wir den Raum verlassen haben, bedankt sich Marcel für meine Unterstützung: »Ich habe schon mehrfach versucht, hier etwas zu bewegen, ich denke es hat uns gutgetan, deine Außenperspektive zu erhalten und ich hoffe, unsere Geschäftsleitung wird künftig besser im Meeting mit mir interagieren.« Kurz darauf verabschiede ich mich und mache mich auf den Weg zum Hotel.

Nachdem ich mich frischgemacht habe, erkunde ich Hamburg zu Fuß. Unterwegs telefoniere ich mit Sophia und wir berichten uns gegenseitig von unserem Tag. Anschließend besorge ich mir etwas zu Essen für unterwegs und setze mich ans Wasser, um die eindrucksvoll beleuchteten Lastenkräne und vor Anker liegenden Schiffe zu bestaunen.

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