(UN)PLANBAR
"Rough Cut Capacity Plans"
Leseprobe Kapitel 8
Gestern besuchten Sophia und ich die Oper und haben die Aufführung von »Carmen« bestaunt. Nach der Vorstellung sind wir noch eine Weile durch Prag geschlendert. Die Stadt bietet bei Dunkelheit eine besondere Atmosphäre. Die historischen Gebäude sind kunstvoll beleuchtet und man taucht in eine andere Welt ein. Auch hier faszinieren mich die vielen Brücken, im gesamten Stadtgebiet soll es schätzungsweise einhundertachtzig von diesen oftmals kunsthistorisch relevanten Bauwerken geben. Von einer Anhöhe aus blicken wir auf das von Laternen erleuchtete Prager Brückenpanorama. Nach diesem Rundgang warten wir auf die Straßenbahn in Richtung Vokovice. Von der Haltestelle aus haben wir einen großartigen Blick auf den Prager Burgberg mit seinem Stadtviertel »Hradschin«. Noch immer bekomme ich bei diesen Anblicken und Eindrücken nicht genug von dieser Stadt – ob bei Tag oder Nacht, ich fühle mich hier sehr wohl und genieße die gemeinsame Zeit mit Sophia.
Da es gestern später wurde, bin ich länger als sonst im Bett liegengeblieben. Dabei vergaß ich, dass ich für meine Verhältnisse bereits eine recht frühe Besprechung mit Leos und Magdalena vereinbart hatte. Ich komme natürlich zu spät, bringe aber Croissants vom Bäcker mit, der auf meiner fünfundvierzig Minuten langen Pendelstrecke liegt, quasi als Wiedergutmachung für die Verspätung.
Wir schauen uns das Thema Rough Cut Capacity Plans, also unsere Kapazitätsprognosen und -auslastungen an. Magdalena wohnt der Sitzung bei, da sie in der Regel die Schichtpläne mit der Produktionsleitung abspricht und wertvolle Regeln wie Arbeitszeitmodelle oder Abhängigkeiten zwischen den Produktionsanlagen gut kennt, beispielsweise vor- oder nachgelagerte Prozessstufen.
Leos verwendet ein Kapazitätsmodell, welches ihm erst vor kurzem durch Mike vorgestellt wurde. Ich war in meiner alten Rolle an dessen Entwicklung beteiligt. Wir haben das Ziel verfolgt, ein Modell zu schaffen, das standort- und anlageübergreifend auf eine gleiche oder ähnliche Datenbasis unserer Systemlandschaft zurückgreifen kann und zudem diverse Standards wie die Regelmäßigkeit der Aktualisierungen setzt, aber auch einer vereinheitlichten Darstellung der Ergebnisse dient. Leos erklärt uns das Modell und verweist dabei auf Beispiele und aktuelle Daten, die er beim Befüllen des Kapazitätsplans verwendet hat. Dabei hebt er richtigerweise die Notwendigkeit aufeinander abgestimmter Daten hervor. Beispielsweise muss die verwendete Produktionseffizienz mit der für die Produktionsplanung verfügbaren Zeit übereinstimmen. Er erklärt: »Da ich die Anfahr- und Abfahrzeiten der Anlage bereits von der verfügbaren Produktionszeit abgezogen habe, kann ich nicht die OEE, Overall Equipment Efficiency, verwenden. Denn sonst würde ich diverse Stillstände doppelt berechnen und eine zu geringe Kapazität ausweisen. Ich muss eher auf die Effizienz der laufenden Fertigungsaufträge zurückgreifen.«
Etwas voreilig springe ich in die Diskussion: »Wie hast du die Rüst- und Reinigungszeiten bei Produktwechseln berücksichtigt?«
»Diese habe ich bei der verfügbaren Zeit separat abgezogen. Somit können wir sie als weitere Variable in unserer Simulation verändern und schauen, welchen Einfluss eine Veränderung von Effizienz oder Rüstzeit hat.« Er ergänzt, dass er ebenfalls die neulich mit Pavel validierten Leistungsdaten der Anlagen eingespeist hat.
Ich signalisiere ihm zufrieden einen Daumen nach oben. Auch Magdalena wirkt beeindruckt, da sie Leos unter Vladimirs Einfluss bisher nicht so proaktiv und wissensreich erlebt hat. Nach weiteren Dialogen starren wir auf die Ergebnisse seiner Modellierungen. Wir sehen pro Abfüllanlage ein Diagramm, das für die kommenden Monate den jeweiligen Kapazitätsbedarf ausweist und diesen mit den möglichen Arbeitszeitmodellen abgleicht. Manche Anlagen zeigen eine wie vermutet hohe Auslastung auf. Bei einigen der Hauptanlagen erkennen wir Bedarfsspitzen, welche die vereinbarten oder auch möglichen Schichtmodelle übersteigen.
»Sind die Ergebnisse eine Überraschung für euch?«
Magdalena bestätigt, dass sie aus ihrer Intuition heraus bereits vermutet hat, dass die kommenden Monate schwer zu bewältigen sein werden. Sie begründet dies vor allem anhand der Zusatzvolumen, die unser Werk nach den Restrukturierungen anderer Standorte erhalten hat.
Ich muss noch etwas tiefer bohren: »Habt ihr diese Erkenntnisse nicht bereits aus der operativen Planung ableiten können?«
»Es ist so, Gabriel: Wir planen heute nur wenige Wochen in die Zukunft. Grob gesprochen haben wir lediglich für die kommenden sechs bis acht Wochen einen machbaren, also auf vorhandene Kapazitäten oder Materialverfügbarkeit abgestimmten Produktionsplan eingestellt. Die restlichen Fertigungsaufträge sind nicht nivelliert. Dadurch können wir in einzelnen Wochen den Kapazitätsbedarf überplanen, in schwachen Wochen nutzen wir wiederum die verfügbare Kapazität nicht aus.«
»Wie legen wir dann die Schichtmodelle für unsere Produktions- und Lagermitarbeiter fest?«
»Das machen wir anhand historischer Daten, zum Beispiel dem Vorjahr. Wir müssen uns sowieso strikt an die im Jahresbudget abgesprochenen Personalstunden halten.«
»Wenn ich die Kapazitätsauswertungen, die hier vor uns liegen, betrachte, dann brauchen wir aber eine Änderung der Schichtmodelle. Innerhalb der Saison benötigen wir mehr Personal respektive Zeit, außerhalb der Saison könnten wir reduzierte Arbeitszeitmodelle anwenden.«
»Pavel sagt, dass er ganzjährig ein einheitliches Schichtmodell fahren möchte. Zudem glaubt er an eine weitere Effizienzsteigerung und somit Reduktion der künftig benötigten Produktionszeit.«
»Ok, fairer Punkt, aber das ist mir dennoch zu einfach formuliert. Ich sehe weder die verbesserten Produktionseffizienzen noch eine gemeinsame Abwägung, dass es für unser Unternehmen besser ist, die Produktion zu glätten sowie zwangsweise Vorproduktionen durchzuführen und somit deutlich höhere Fertigwarenbestände aufzubauen, geschweige denn extern zu lagern.«
»Gabriel, das musst du mit Pavel besprechen. Wir haben uns hier bereits die Finger verbrannt.«
»Ich sehe diese Abstimmung als eine Routineaufgabe der Produktionsplanung, und zwar innerhalb eines sich monatlich wiederholenden Planungsprozesses.«
»Wir haben doch dafür keine Kompetenzen und in der Vergangenheit war das immer Aufgabe der Führungskräfte.«
»Tja, dann werden wir das eben ändern müssen. Ihr seid viel näher an den Details und könnt dem Management-Team bessere Handlungsempfehlungen aussprechen. Im erwähnten monatlichen Abstimmungsprozess werden dann ausgewählte Mitglieder der Standortleitung teilnehmen, sodass wir anhand der von euch vorbereiteten Informationen Entscheidungen treffen.«
»Du verlangst ernsthaft, dass wir diese große Übung mit den Kapazitätsauswertungen jeden Monat durchführen?«
»In der Tat. Ich bin überzeugt, dass ihr die Vorbereitung noch weiter automatisieren könnt. Sobald die Rahmenbedingungen wie Effizienzen, Produktionszeit und Anlagenleistungen mit der Produktion abgestimmt sind, oder besser, von ihnen verstanden werden, werdet ihr nur noch den aktuellen Bedarf einspielen müssen. Idealerweise haben wir in Zukunft unser Planungssystem so weit optimiert, dass wir einmal im Monat den kommenden zwölf bis achtzehn Monatshorizont direkt aus den operativen Plandaten verwenden können.«
Beide schauen mich etwas entmutigt aufgrund der erwarteten zusätzlichen Arbeitsbelastung an.
»Ich kann eure Skepsis verstehen. Dies ist ein neuer Prozess. Ich bin überzeugt, dass wir mit einer besseren Abstimmung weniger Hektik aufgrund von Feuerlöschübungen haben werden. Weiterhin müssen wir ja nicht jede Woche den Horizont von mindestens einem Jahr neu planen. In Abhängigkeit der benötigten Vorlaufzeit unserer Rohstoff- oder Verpackungsmateriallieferanten und Pavels Restriktionen bezüglich der Produktionsflexibilität, könnten wir etwa nur die ersten drei Monate im wöchentlichen Rhythmus verplanen. Lediglich in der Woche unserer monatlichen Abstimmungsmeetings wäre dann der längere Horizont abzugleichen.«
»Was ist denn die übergeordnete Zielsetzung dieses Prozesses?«
»Gute Frage. Wir müssen eine abgestimmte Planung über alle Stufen der Lieferkette erreichen. Zum einen müssen wir unseren Kunden aufzeigen können, ob und wie wir ihre Absatzpläne befriedigen können. Zum anderen müssen wir sicherstellen, dass unsere Produktionspläne so genau wie möglich, aber auch nötig erstellt sind, sodass unsere Lieferanten ebenfalls ihre Supply-Chain-Steuerung an unserer Planung ausrichten können.«
»Was tun wir bei sichtbaren Engpässen?«
»Genau das ist eine weitere Motivation für diesen Prozess. Wir müssen prüfen und entscheiden, wie wir mit Engpässen umgehen. Das kann in einem Fall sein, dass unsere Kunden verkaufsfördernde Maßnahmen verschieben müssen oder in einem anderen Fall müssen wir Zusatzschichten aufbauen und mehr Komponenten beschaffen, um die Bedarfsspitzen zu befriedigen. Hierzu müssen wir aber die relevanten Vorlaufzeiten für solche Entscheidungen in der Beschaffung von Material wie auch Personal berücksichtigen.«
»Das kling gut, aber was ist mit den unzuverlässigen Verkaufsprognosen?«, mischt sich nun Leos in die Diskussion ein.
»Auch das ist ein fairer Punkt. Und genau hierzu müssen wir uns noch etwas überlegen. Stand heute würde ich sagen, dass wir, so lange keine Reduktion der Verkaufsschwankungen vorliegt, eine entsprechende reaktive Kapazität in den Produktionsplänen und Materialbeständen vorhalten müssen. Auch das wäre ein regelmäßiger Diskussionspunkt der Abstimmungsmeetings.«
Wir beenden das Meeting und meine Gedanken springen zu Pieters Angebot – einer Verabredung zu Drinks und Darts.
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